Hannelott Walter, Malerin | Sie befinden sich hier: Essays

Zeitverbleib

Gabriel Lohnert, Filmproduzentin

Diese Wortschöpfung beschreibt den Wunsch nach dem kurzen Anhalten, dem kurzen Bleiben, dem im wirklichen Leben oft unmöglichen Begehren des „Verweile doch, oh Augenblick …“. Sich-Zeitnehmen, den Moment betrachten.

Innehalten drückt im deutschen Sprachgebrauch sehr deutlich dieses Anliegen aus: das äußere Anhalten wird verknüpft mit dem bewussten Akt des inneren Behaltens, der Erinnerung und Reflexion.

In den Bildern von Hannelott Walter spiegelt sich dieses Sujet in einer Dichte, wie sie nur der Kunst zu eigen ist.

„Meine Bilder entstehen aus Erinnerung und Hoffnung“. Lebenszeit schichtet sich übereinander, drängt sich in einen Augen-Blick zusammen. Geschehenes, Erlebtes und Erfahrenes wird in Malerei gefasst und dem Betrachter als Inspiration für eine Reise in die eigene Zeit weiter gegeben.

Die Bilder von Hannelott Walter entführen uns zu Wasser, zu Lande oder in die Luft, stets in die freie Natur. Denn dort, sagt sie, „ist man dem Wesentlichen näher und von Himmel bedacht“. Deswegen erscheinen in ihren Gemälden immer wieder Landschaften. Landschaften, die sich hinter der obligatorischen Horizontlinie und zwischen Assoziationen Wasser, Strand und Felsen zu Gedankenräumen öffnen. Fernweh klingt an und schickt den Betrachter auf die Reise zu inneren Landschaften.

In raffinierten Verschachtelungen und gegenseitigem Durchdringen konstituieren sich die Bildinszenierungen. Mit einzelnen Landschaftsausschnitten und immer wechselnden Blickwinkeln, als änderte der Betrachter seinen Standpunkt laufend, wird ein dynamischer Sog aufgebaut. Auf dieser Bildbühne entstehen Geschichten und Dialoge wie zwischen offenen Türen. Der ganz individuellen Interpretation Raum schaffend.

Um den einzelnen Kompositionen Halt und Grenze zu geben, fügt Hannelott Walter folgerichtig ihren Bildern einen gemalten Rahmen als eigenes Bildelement hinzu. Als sorgfältig ausgewogener Bildaufbau sind diese Gestaltungsprinzipien in den früheren Arbeiten erkennbar und halten die einzelnen Elemente in schwingender Balance. In der weiteren Entwicklung dieses Arbeitszyklus verlieren sich dann zunehmend benennbare Landschaftsmotive. Karl Philip Moritz‘ Verdikt wird jetzt anschaulich: „Es soll die vorstellende Kraft des Betrachters nicht verteilt werden, sondern zusammengedrängt und der Blick der Seele geschärft werden.“ Das Zusammendrängen, das Verdichten im Moment, die Darstellung von Vielschichtigkeit stehen im Mittelpunkt der Bildersprache.
In fortschreitender Abstraktion werden aus Himmel und Erde, Meer und Wolken horizontal geordnete Farbflächen.

Wie reines Sehen und bewusstes Wahrnehmen sich von einander unterscheiden, so geht der Prozess in Hannelott Walters Bildern vom Affirmativen zum Abstrakten. Natur bleibt als Idee weiterhin erhalten – wie auch die Bildtitel darauf verweisen. Aber Natur wird immer mehr zur Projektionsfläche für die sich anschließende Kontemplation.

Man schaut wie durch angehauchtes Glas oder farbige Nebel. Und nimmt Lichtfelder wahr, die an den Grenzlinien duftig den Übergang suchen, sich quasi verströmen. Entropie wird zum Bild. Entropie beschreibt das faszinierende Naturphänomen, das alle Gegenstände in Bewegung und ins Fließen geraten lässt, bis der wahrscheinlichste Zustand, der des Ausgleichs, erreicht ist. Das Prinzip Harmonie wird damit als Ziel für die Reise in Hannelott Walters Bildsprache im wahrsten Sinne des Wortes transparent.

Nimmt man sich Zeit und verbleibt bei den Bildern von Hannelott Walter, dann führen sie weg vom Äußeren und öffnen die Sinne nach Innen.

Ist dass nicht einen Zeitverbleib wert?

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„Die Kunst
wird durch eine Reihe von Individuen produziert,
die sich selber ausdrücken;
sie ist keine Frage des Fortschritts.“
Marcel Duchamp

Zwischen Himmel und Erde
Zehn Gebote bei der Begegnung mit den Bildern von Hannelott Walter

Vera Botterbusch, Publizistin

1.  
Wenn man das Diktum von Marcel Duchamp ernst nimmt, dann können wir immer wieder dort anfangen, wo Malerei entsteht: vor einer Leinwand, auf die Farben aufgetragen werden.
Aber welche Farben und mit welchem Ziel?
Malt Hannelott Walter, um ihre Sehnsucht zu stillen? „Sehnsucht ist immer ein Mangel“, sagt sie. Aber ein Mangel woran? „Malen heißt Hunger stillen“.
Eine romantische Absichtserklärung.
„Sehnsucht schafft Bilder“, diesen Ausspruch von Georg Baselitz zitiert Hannelott Walter gern.

2.
Betreten wir das Atelier der Malerin.
Ein Raum der Ruhe und der Ordnung. Sichtbar die Freude an kleinen liebgewonnenen Dingen. Zum Beispiel Brillen. Große, kleine. Eckige, runde. Nützliche Utensilien, um der Welt gegenüber zu treten.
Sich Klarheit verschaffen. Einen Blick werfen. Den Blick schweifen lassen. Das Auge auf etwas heften. Es dort haften lassen. Verweilen.
Im Angeschauten versinken. Zeit verstreichen lassen.
Oder Uhren. Ein ganzes Sortiment, um die Zeit zu messen. Die Uhren können die Zeit nicht aufhalten. Sie bleiben irgendwann stehen. Die Zeit läuft weiter.

3.
Zwei Reproduktionen hängen an der Wand. Watteau und Velasquez. Quasi
im Blickwinkel, wenn die Malerin an der Staffelei steht.
Watteaus berühmtestes Gemälde: „Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint“ und Velasquez‘ „Las Meninas“. Zwei Gemälde über das Sujet der Bildbetrachtung.
Bei Velasquez eine Reflektion über die geistige Würde der Kunst. Ein Dialog mit dem Betrachter.
Bei Watteau eine anmutige, im besten Sinne graziöse Versinnlichung von Kunst. Malerei als Illusion und Wirklichkeit. Der Betrachter wird in eine imaginäre Galerie eingeladen, in der die Malerei sich selbst darstellt.
Bleiben wir bei Antoine Watteau.
Das Zusammenspiel von Intellekt und Empfindung. Seine Fähigkeit Seide zu malen. Ein stoffliches Ereignis, das den Betrachter berückt. Watteau hat wohl den Glanz erfunden.
Geht es Hannelott Walter um diesen Glanz? Darum, auf ihren Bildern dieser Sinnenfreude ein eigenes Fest auszurichten?
Mit Leidenschaft und Akribie weist die ehemalige Kunsterzieherin auf inhaltliche und formale Parallelen hin, die sie bei Watteau und Velasquez entdeckt hat. Die schlafenden Hunde zum Beispiel, beide Male am rechten Bildrand.
So wünscht sich Hannelott Walter den Betrachter ihrer Bilder: als einen
Spaziergänger in der „Passage“ ihrer Bilder.
Ja, als einen Flaneur, der im Duft der Farben die changierenden Parfumnoten ausmacht.
Als einen leidenschaftlichen Kunst-Liebhaber. Als einen akribischen Leser von Rand-Notizen, von Unterschwelligkeiten, von verborgenen Zonen.
„Wissen Sie wohl noch, Lisaweta, dass Sie mich einmal einen Bürger, einen verirrten Bürger nannten?“ schreibt Tonio Kröger in Thomas Manns gleichnamiger Novelle.

4.
„Alles im Leben ist Schichtung“, sagt die Malerin. „Das Alte färbt das Neue ein“.
Hannelott Walter schöpft gern aus einem philosophischen Kontext, um ihre klaren leuchtenden tiefgründigen Farbtafeln mit einem weiteren Tief-Sinn zu versehen. „Die Kunst als ein Medium zur Menschlichkeit“.
Malerei steht in einem das Leben bedeutenden Zusammenhang.
Was ist das Leben?
„Das ‚Leben‘, wie es als ewiger Gegensatz dem Geiste und der Kunst gegen-übersteht, - nicht als eine Vision blutiger Größe und wilder Schönheit, ... sondern das Normale Wohlanständige und Liebenswürdige ist das Reich unserer Sehnsucht, ist das Leben in seiner verführerischen Banalität.“ (Tonio Kröger)
Leben ist Erleben, ist Empfindung, ist Gegenwart.
„Es kommt nicht auf die Modernität eines Bildes an, sondern auf die Gegenwärtigkeit, in die es seinen Betrachter versetzt“, sagt die Malerin.

5.
So fing es an.
Sagen wir 1995. Hannelott Walter quittiert den Schuldienst, um sich nur noch der Malerei zu widmen.
Flammende Flächen in Rot, Blau und Türkis gegen den grauen Alltag setzen.
Einfach nur malen.
Einen Rahmen abstecken und Schicht um Schicht auftragen. Überlagern. Als ließe sich dadurch die Zeit aufhalten.
Die Zeit, die verfliegt, aufschichten.
Zeit schichten. Zeitschichten.
Strenge Grenzen. Aber das Abgegrenzte, Ausgegrenzte spüren, ahnen lassen. Aus den Überdeckungen einzelner Farbflächen wachsen neue Bilder: Schlafende Gezeiten.
Heiteres. Naturhaftes: „Herbstliche Triade“.
Wolken und Wasser dringen ins Bild: aqua marin. Morgen- und Abendstimmungen durchdringen die Farbfelder, schaffen Leichtigkeit und atmosphärische Oberflächen. Aufgewühlte Himmel hängen über tiefen Horizonten.
Der Entdeckung sind keine Grenzen gesetzt.
Aus dem Erleben von Landschaft - Gegenstände tauchen auf ihren Bildern nicht auf - schöpft Hannelott Walter eine innere Befindlichkeit, die sich in großen rechteckigen Farbflächen und in, in der Tendenz monochromen
Farbtönen niederschlägt: in allen Nuancen von Rot und Blau, Grün und
Gelb. Je intensiver sich diese Farben Raum schaffen, Flächen konfigurieren, Eindrücke verdichten, in Spannung zu einander treten, um so mehr tritt die visuelle Ablesbarkeit von Naturphänomenen in den Hintergrund.
Schließlich sagt der reine Farbton alles. Mit Vibrato.
Expressiv und abstrakt.
Farb-Welten entstehen und vergehen. Terra di Siena.

6.
Das Fließen, das Vibrieren der Farben und Flächen als eine Stimulanz für Malerin und Betrachter.
Die Auflösung der Farbe in Licht.
Ist es das Bild auf der Netzhaut, das vibriert, oder vibriert das Pigment der Farbe, vibriert der Farbstrom von rostigem Rot, das milchige Weiß?
Es geht um Bewegung, um ein Höchstmaß an visueller und emotionaler Wirkungskraft der Farbe. Ganz einfach um Lichträume. Um Sublimierung. Transzendenz nicht ausgeschlossen.
„Die Bilder von Hannelott Walter sind vibrierende Farbtafeln“, habe ich einmal geschrieben, „die sich an der Wahrnehmung von Landschaft orientieren und dabei Innenansichten reflektieren, das Bild vom Bild erinnern“.
Jetzt würde ich sagen: „Die Bilder von Hannelott Walter sind Vibrationen der Atmosphäre und der Sinne.“

7.
Bildtitel sind Anhaltspunkte. Haltepunkte. Sie laden ein zur Assoziation.
Ein „Baltischer Himmel“ etwa regt die Wahrnehmung an. Das zarte Lila, das verhaltene Rosa, das helle Blau erzeugen eine Lichtstimmung, über der der Duft von etwas Gesehenem liegt.
Man spürt Flieder in der Luft.
Ganz anders Schirokko: Ein buntes nervöses Flirren.
Sonnenwind: Ein gelbes Flimmern.
„Flachland“: Ein Sich-Dehnen und Strecken. Ein Durchatmen.
Bildtitel können aber auch durch die Betonung eines dem Bild zugrundeliegenden Naturerlebnisses den Blickwinkel verengen.
Und doch. Der Duft von Flieder bleibt. Auch ohne Baltischen Himmel.

8.
Es fällt das Wort Harmonie. Ein Lebensgefühl? Eine Hoffnung? Eine Sehnsucht.?
Hannelott Walter braucht Harmonie.
Sie löst Disharmonie auf, in nebulösen Farbwolken, in denen die Erinnerung an Dissonantisches durchscheint. Mal tritt eine Formation fast vorwitzig in den Vordergrund. Drängt aus dem Bildraum. Schattenwandern.
Sie bewegt sich gern im Vertrauten Terrain. Bis zu den Rändern.
„In der Schilfzone findet das Leben statt“, sagt Hannelott Walter.
Den Rändern eines Bildes gilt die besondere Aufmerksamkeit der Malerin. Der Rand ist Reiz und Anreiz. Eine Herausforderung. Eine Gefahrenzone. Oder Sicherheit?
Als könnte sich nur innerhalb der Begrenzung etwas entscheiden.
Auch Ränder überlagern sich gern bei Hannelott Walter, werden verdeckt, scheinen durch, lösen sich auf, bringen die Farbfelder zum Schweben. So als würde so die Malerin subtile Eingriffe in den Prozess des Lebens nehmen. Oder sich in Haltepunkten rückversichern.

9.
Wir leben in einer Zeit der Bilderflut. Der Überflutung.
Was ist ein Bild? Gehören Bilderfahrung und Selbsterfahrung zusammen?
Der amerikanische Maler russischer Abstammung Mark Rothko sagt:
„Ich halte fest an der stofflichen Wirklichkeit der Welt und an der Substanz der Dinge. Ich erweitere diese Wirklichkeit nur hinein in einen Bereich, dem ich die gleichen Eigenschaften zuschreibe wie der erfahrbaren Wirklichkeit in unserer gewohnten Umgebung. Ich bestehe auf der gleichberechtigten Existenz der Welt, die der Geist hervorbringt, und der Welt, die Gott geschaffen hat“.
Ist Malen ein innerer Monolog? Eine Form der Selbsterkenntnis? Eine Frage der Selbstvergewisserung? Eine Art Offenbarung.
Entsteht gleichsam eine Ästhetik des Ich?
„Ich will im Bild gar nicht vorkommen, nicht meine Erinnerungen, nicht
meine Stimmungslagen. Ich male ein Bild für die anderen“, betont die Malerin.
Malerei als Einladung und Aufforderung?
„Jeder Betrachter sieht sein Bild“, sagt Hannelott Walter.
Malerei als Projektionsfläche. Als ein wechselnder Spiegel.
„Schauen ist Erleben“.
Welchen Inhalt gebe ich den Dingen? Wie und wohin transformiere ich meine Eindrücke?
„Das Ereignis bin ich selbst“, sagt die Malerin. Im Schauen, im Erleben. Im Fühlen.
Beim Bildbetrachten fühle ich mich selbst.
„Ich überlasse dem Betrachter die volle Autorität über das Bild“.
Sich selbst Fühlen: eine Aufgabe sowohl für den Maler wie für den Be-
trachter.

10.
Gibt es in der Kunst einen Götterhimmel?
Für Hannelott Walter schon. Sie, die gläubige Protestantin, verehrt den Maler Mark Rothko. Auf dem Altar seiner Kunst legt sie ihre Bilder nieder. Opfergabe und Weihegeschenk.
Für Mark Rothko ist Malerei: „Tragödie, Ekstase, Schicksal“.
Für Hannelott Walter ist Malerei schlicht das Leben.
Empfindung drängt zur Farbe. Empfindung dringt in die Farbe ein. Farbe ist Empfindung.
„Ein Gemälde“, hat Mark Rothko einmal gesagt, „lebt von seinem Gegenüber, entwickelt sich und gewinnt innere Kraft in den Augen des einfühlsamen Betrachters“.
Hannelott Walters Bilder sind ein lebendiges Zeichen für diesen Dialog. Eine Frage und eine Antwort. Eine Hommage mit einem Blick nach vorn.

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