Lutz Peters: Unsere freundschaftliche Situation gibt mir die Möglichkeit, einmal ganz direkt an die Malerin die Frage zu stellen: Wie entsteht ein Bild?
Hannelott Walter: Dazu kann ich natürlich nur von meiner eigenen Vorgehensweise etwas sagen. Ich hab vor mir eine Leinwand, die in der Größe meinem Aktionsradius entspricht. Eine leere Fläche, in der alle Möglichkeiten, alle Freiheit, alle Versprechungen schlummern. Ein weites Feld, aber nicht unbegrenzt: 4 harte Kanten verankern es in der Wirklichkeit.
Mit der Spannung zwischen diesen beiden Begriffen – Freiheit und Grenze – beschreibt das Rechteck der Leinwand die äußere Erscheinung und das innere Wesen eines Bildes aufs knappste, aber vollkommen.
Wenn ich beginne, der Leinwand ein individuelles Gesicht zu geben, dann ihr eigenes: rechteckige Farbflächen in allen möglichen Spielarten, ihren Gewichtsverhältnissen untereinander, ihrer räumlichen Staffelung, ihrer Durchdringung usw. Die amerikanische Stilrichtung der Farbfeldmalerei, allen voran Marc Rothko, hat uns dafür die Augen geöffnet. Weil ich aber dem Betrachter und seiner gewohnten Erwartung an ein Bild etwas entgegenkommen will, lasse ich da und dort aus den Rechtecken abbildhafte Gegenständlichkeit hervorwachsen.
L. P.: Das sind, besonders in den früheren Arbeiten ganz auffällig, Landschaftsmotive.
H.W.: Natur ist eben mir das Vertrauteste. In der Natur fühle ich mich dem Wesentlichen näher und vom Himmel bedacht.
L.P.: Aber es sind irritierende Landschaftsansichten. Sie sind eingefasst von konkret gemalten Bilderrahmen, die irgendwo enden und sich durchdringen, sodass auch die Motive ineinander übergehen und sich immer neue Zusammenhänge ergeben. Es wird dadurch hervorgehoben, dass das Bildhafte eine Illusion ist.
H.W.: Das Bild vom Bild eben. Das ist ja mein Ausgangspunkt.
L.P.: Zunehmend verliert sich dann das Gegenständliche. Meer und Himmel lösen sich auf zu etwas Atmosphärischem, zu einer Idee von Natur. Mir scheint die Farbe spielt immer mehr die Hauptrolle.
H.W.: Malerei heißt ja vor allem Farbe. Sie entsteht durch Licht. Goethe beginnt seine Farbenlehre mit dem wunderbaren Satz: „Die Farben sind die Taten und Leiden des Lichts.“ Das heißt: Erst Licht lässt die Farben entstehen und vergehen, gibt ihnen Namen und Charakter, rückt sie nach vorn oder hinten, wodurch Räumlichkeit entsteht, lässt sie flirren und flimmern, schafft so Bewegung und bringt auf diese Weise sogar Zeit ins Spiel. Farben, die Kinder des Lichts, transponieren das sinnlich Wahrnehmbare ins Abstrakte der Gedanken und Gefühle.
L.P.: Farben führen uns also spielend von der Oberfläche eines Bildes in seine Tiefe. Zu welchem tieferen Gehalt wollen uns also deine Bilder verführen?
H.W.: Es ist eine Erkenntnis der Wahrnehmungstheorie, dass Bilder Bilder erzeugen. Diesen Effekt will ich beim Betrachter auslösen, das ist eigentlich meine einzige Absicht. Ich schaffe mit meiner Arbeit Orte der Ruhe, wo sich die im Unbewussten des Betrachters liegenden Erfahrungen, Wünsche und Empfindungen sammeln und zu bildhafter Gestalt verfestigen können. Diese imaginären und ganz persönlichen Bilder treten dann der Malerei quasi Aug in Auge gegenüber, und in einem steten Wechselspiel verändern, bereichern und beleben sie sich gegenseitig. Bei solcher Wahrnehmung eines Gemäldes wird der Betrachter zum kreativen Akteur und sein Schauen zum Erleben, Sich-Erleben.
L.P.: Das meint wohl dein Satz, den ich mal gelesen habe: “Es kommt nicht auf die Modernität eines Bildes an, sondern auf die Gegenwärtigkeit , in den es seinen Betrachter versetzt.“ Aber spielt die Aktualität eines Kunstwerks, der Zeitgeist, den es reflektiert, nicht doch auch eine Rolle?
H.W.: Natürlich. Ein Künstler lebt in seiner Zeit und spürt ihre Strömungen sehr genau. Er erfasst sogar meist vorausahnend wie sich Lebensfakten und Lebensgefühle verändern, was dann auch neue künstlerische Ausdrucksformen hervorbringt.
Was mich betrifft, so spüre ich eine enorme Veränderung des Wirklichen in unserer Lebenswirklichkeit. Die digitale Datenwelt hat doch die Analogie zum tatsächlichen Leben weit hinter sich gelassen. Realität wird zu einer Fiktion, ortlos, haltlos, schwindel- und angsterregend. Aus solchen Empfindungen heraus sehe ich meine Bilder als eine Schutzzone, ein freies Gehege, in der man sich seines Ichs als einzig zuverlässiger Wirklichkeit versichern kann. Eine Empfindung, die den Betrachter tröstet, ermutigt und belebt. Vielleicht ist ja das überhaupt die Aufgabe und der Sinn der Kunst.